Vor kurzem habe ich einen Artikel über “Workism” gelesen. Wieder so ein neues Modewort dachte ich zunächst, bevor ich mich dann tiefer mit dem Thema und mit der Frage, wie wichtig mir Arbeit ist und welchen Stellenwert in meinem Leben diese einnimmt, beschäftigt habe. Ich stellte mir die die Frage: “Wer bin ich, wenn ich nicht arbeite?”. Ja, wer bin ich denn dann eigentlich?
ABC News strahlte in der Sendung “Good Morning America” einen Ausschnitt aus einem Interview mit Basketball-Legende Kobe Bryant aus. Hierin reflektiert er über das Leben nach seiner eindrucksvollen Profi-Karriere bei den Los Angeles Lakers in der NBA, die er 2016 beendete. In diesem Interview weist er auf die Bedeutung hin, für sich selber eine klare Vorstellung vom Unterschied zwischen “doing what you do versus understanding that that is not who you are” zu kennen. Diese Grenze zwischen dem was ich mache und dem was ich bin, verschwimmt immer mehr, wir definieren uns zu großen Teilen über die Arbeit die wir ausführen. Doch was bleibt, wenn diese, wie bei Bryant, wegfällt, der jahrelang als NBA-Profi im Rampenlicht stand?
Das Wort “Workism” haben wir Derek Thompson zu verdanken, der im Atlantic die Wortneuschöpfung verwendet und dazu schreibt, dass sich unsere Arbeit mehr und mehr in “a kind of religion, promising identity, transcendence, and community” gewandelt hätte. Unsere Identität wird also bestimmt durch unsere Arbeit, nicht durch unsere Sozialisation, unsere Beziehungen, unsere Hobbys oder Leidenschaften. Arbeit sei nicht mehr weiter eine Notwendigkeit, sie sei Kern unserer Identität geworden. Schlicht gesagt: du bist, was du arbeitest. Und ist es nicht gerade das, nach dem spätestens die Generation Y und Z streben? Ein Job der mehr Berufung als Beruf ist, der uns erfüllt und mit uns zu eins zu werden scheint? Getreu dem Motto “ tu was du liebst und du wirst nie wieder arbeiten”. Gleichzeitig verschmelzen damit auch Arbeit und Leben und eine Work-Life-Balance ist gar nicht mehr nötig, denn wir leben ja wenn wir arbeiten und andersrum, wozu also eine Balance? Wir haben ja bereits den Job, der uns vollkommene Selbstverwirklichung zugestehen soll. Nina Kunz, Journalistin aus der Schweiz, beschreibt die Folge davon sehr treffend wie ich finde:” darum habe ich heute keine Schreib-, sondern Lebenskrisen, wenn ich im Job versage.”. Als ich dies las, wurde mir nochmal mehr bewusst, wie differenziert Workism betrachtet werden sollte. Auf der einen Seite ist es wunderschön diesen einen Beruf gefunden zu haben, der mich erfüllt und mich montags gerne aufstehen lässt. Der mich nicht merken lässt, dass ich wieder einmal ohne Pause durchgearbeitet habe, der mich auch abends nochmal meine Mails checken lässt, einfach, weil ich Lust drauf habe. Auf der anderen Seite wurde mir bewusst, was Workism aber auch für einen immensen Druck auslösen kann.
Denn was ist, wenn ich meine Berufung noch nicht gefunden habe und mich jeden Tag zu einem Job schleppe, den ich gerne jede Sekunde an den Nagel hängen würde? Oder ich habe meine Berufung gefunden und kann an nichts anderes mehr denken, vernachlässige mein soziales Umfeld, meine Hobbies. Vielleicht bin ich so beschäftigt damit diesem Ruf zu folgen, dass ich vergesse, mich zu fragen, ob ich nicht eigentlich auch noch andere Pläne im Leben habe? Familiengründung, einen Hund, das Haus auf dem Land oder die Gitarrenstunden. Welche immensen Auswirkungen hat ein Jobverlust auf mich, wenn dies alles ist, was ich denke zu sein? Wenn ich mein Job bin, wer bin ich, wenn der Job mir genommen wird? Was ist, wenn ich mein Hobby zum Beruf gemacht habe, und dann plötzlich merke, dass das noch gar nicht so unfassbar toll ist, sich jeden Tag damit zu beschäftigen. Wenn der Druck damit jetzt mein Einkommen zu bestreiten mir jegliche Freude an der Tätigkeit nimmt, die ich einst geliebt habe? Was wenn ich meine Berufung gefunden habe und dann merke, dass eine Krise im Job gleich mein ganzes Leben in Frage stellt? So schön es klingt, mit seiner Arbeit zu verschmelzen, es hat auch durchaus auch Schattenseiten.
Was wenn ich meine Berufung gefunden habe und dann merke, dass eine Krise im Job gleich mein ganzes Leben in Frage stellt?
Vielleicht kennst du die folgende Situation aus deinem eigenen Berufskontext. Du stehst auf einer Netzwerkveranstaltung und es geht direkt darum ab zu tasten, ob ein berufliches “Match” besteht und man einander von Vorteil sein könnte. Nach einem kurzen beruflichen Beschnuppern geht es dann weiter. Oftmals weiß ich nach einem 20-minütigen Gespräch nichts weiter von der Person als den Titel auf der Visitenkarte und die Verbindung zum Thema der Veranstaltung. Wenn es sich ergibt und man “mal so richtig ins Quatschen kommt” erfährst du vom Gegenüber: Sabine M., Head of Business Development bei einem Solarstromanbieter, sucht neue Kontakte und Trends im Markt der Erneuerbaren Energien. Die Firma sitzt in Schweinfurt, sie arbeitet in Berlin, um am Puls der innovativen Start-ups zu sein. Ihr Kollege Herr Murter ist auch heute abend hier, er beobachtet die Gesetzgebungsverfahren und knüpft die politischen Netzwerke, unterhält die Beziehungen zu den Verbänden. Aha. Mehr erfahre ich von Sabine M. nicht, denn sie möchte noch “mehr netzwerken”, dafür ist die Veranstaltung ja schließlich da. Zurück bleibt ein halbes Glas Weißwein und Ihre Visitenkarte. Ich nippe an meinem Wein und denke darüber nach, wie Sabine wohl Berlin findet und ob sie den Chardonnay nur zum Festhalten im Gespräch mit Fremden in der Hand hatte oder ob Sie ihn mochte . Dann ziehe ich weiter, denn wir sind ja schließlich zum netzwerken da. Wir stehen auf der beruflichen Bühne.
Auf Geburtstagsrunden im privaten Kreis ergibt sich jedoch oftmals dasselbe Bild: “Und was machst du so?”, werde ich zwischen Küche und Wohnzimmer gefragt. Die Frage zielt sehr wahrscheinlich darauf ab, zu erfahren, was ich beruflich so treibe, in welcher Branche ich unterwegs bin, was meinen Berufsalltag prägt. Schnell befinde ich mich in ähnlichen Situationen wieder, wie oben. “Ich bin … Ich arbeite … Ich beschäftige mich mit…”. Acht Stunden am Tag, 40 Stunden in der Woche arbeiten wir, wenn wir einer “normalen” Vollzeitstelle nachgehen. Ziehen wir durchschnittliche acht Stunden zum schlafen ab, dann bleiben alltags noch acht Stunden übrig, in denen wir nicht im Job Modus agieren. Plus das Wochenende, also 48 Stunden, die ich – ich bin mal so frei-, hier einfach in den komplett Privatmodus eingliedere. Wie kann es sein, dass wir uns dennoch in solchen Gesprächen komplett über unseren Beruf identifizieren? Warum fragt mich niemand, was ich sonst so treibe? Und gleichzeitig frage ich mich: was würde ich darauf antworten?
Und was machst du so?
Inzwischen habe ich mich selber einer kleinen Challenge ausgesetzt und ich lade dich ein, dich inspirieren zu lassen. Wenn du das nächste mal wieder auf einer privaten Party unterwegs bist, geh doch mal als ganzer Mensch in Konversationen. Wer bist du noch, wenn du nicht im Büro bist? Beziehungsweise, wer bist du AUCH, wenn du arbeitest? Wenn also die beliebte Party-Frage kommt: “Und was machst du so?”, dann antworte mal, wer du bist und was du machst, ohne deinen Beruf zu erwähnen! “Ich heiße Lena, rheinländische Optimistin, denn es muss ja immer irgendwie weitergehen. Dazu liebe ich Bücherläden und den geheimnisvollen Geruch von Buchseiten. Momentan kommt das lesen allerdings etwas zu kurz, jetzt wo ich so drüber rede. Ansonsten lache ich gerne, herzhaft und laut, weswegen ich Sommerterrassen an Berliner Abenden wirklich pünktlich um 22.00 Uhr verlassen muss, weil es sonst Ärger gibt. Ich wohne in Berlin zwischen Stadt und Wald, liebe Wanderungen in Brandenburg und bin gerade auf der Suche nach guten Wanderschuhen, die über die Knöchel gehen sollten. Außerdem habe ich heute fast alle Schaumküsse vom Buffet vernascht und habe keinen Fernseher zu Hause. Und du?”
Viel Spaß beim selber ausprobieren und viele wirklich tiefgehende Gespräche wünsche ich. Denn wir sind so viel mehr als nur unser Job und unser Leben hat so viel mehr Qualitäten und aufregende Inhalte. Die Arbeit ist ein sehr wichtiger Faktor, wir verbringen viel Zeit mit ihr und Sie sollte uns bestenfalls erfüllen, Spaß machen und Wertschätzung vermitteln. Aber wir sind nicht unser Job. Wir sind bunt und dürfen es auch sein!
Wer bist DU, wenn du nicht arbeitest?
Volle Kraft voraus!
Literatur zum Artikel und darüber hinaus:
Link zum “ABC News” Interview mit Kobe Bryant: https://abcnews.go.com/GMA/video/kobe-bryant-discusses-dear-basketball-live-gma-46976254.
Link zur Kolumne “Workism” in Das Magazin von Nina Kunz: https://www.dasmagazin.ch/2020/01/15/workism/
Link zu Beitrag “Da ist was dran” bei ohhhmhhh von Nina Kunz: https://www.ohhhmhhh.de/nina-kunz-workism/?mc_cid=71df9221e2&mc_eid=1fcac8d0e0
Link zum Artikel “the danger of workism” in strategy+business von Josh Levs: https://www.strategy-business.com/blog/The-dangers-of-workism?gko=2766c
Link zum Artikel “Workism is making Americans miserable” im Atlantic von Derek Thompson: https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2019/02/religion-workism-making-americans-miserable/583441/
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